Samstag, 18. Mai 2024

Zitate zur Zeit: E-Mail-Bomben für den Cyberkrieg

 

Wenn wir angegriffen werden, beim Bundestag oder bei der Wirtschaft oder wo auch immer in Deutschland, dann wäre es doch mal sinnvoll, wenn wir eine E-Mail zurückschicken und den Server, der uns angreift, einmal ausschalten. 

Gerhard Schindler, bis 2016 Chef des Bundesnachrichtendienstes, erläutert, wie im Cyberraum mit E-Mail-Bomben Angreifer in die Knie gezwungen werden

EU-Kolonialreich: Wo die Sonne niemals untergeht

Die EU unterhält bis heute ein prächtiges weltumspannendes Kolonialreich, das bei die zuständigen Mitgliedsstaaten unter dem unverfänglichen Namen "Überseegebiete" geführt wird.
 

Es ist Ausnahmezustand, nicht irgendwo am Rande der EU, sondern mittendrin. Aber Neukaledonien ist nicht Georgien, es ist auch nicht Israel. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der indigenen Bevölkerung der französischen Kolonie gelten deshalb in Brüssel wie in Berlin als strikt zu vermeidendes Thema.

Sie nennen es vorsichtig "Überseegebiet", auch wenn es sich faktisch um eine der verschwiegenen Kolonien der Europäischen Union handelt. Dank früherer Bemühungen der Niederlande, von Spanien, Dänemark, Portugal und Frankreich verfügt die EU bis heute über Auslandsniederlassungen auf vier Kontinenten. Ein Weltreich, über das in Zeiten des Antikolonialismus weniger gern gesprochen wird als über die Kolonialmacht Israel. Offiziell bezeichnet die EU die angeschlossenen Exklaven als "Regionen in äußerster Randlage", das allein schon offenbar einen euro-zentristischen Blick. 

Außengrenze im Indischen Ozean

Doch von Guadeloupe über Französisch-Guayana, Martinique, Mayotte, Réunion und St. Martin über die Kanarischen Inseln, die Niederländischen Antillen bis zu den Azoren leben alle recht kommod damit. Frankreich sorgte zuletzt vor zehn Jahren für eine EU-Erweiterung der besonderen Art: Mit Mayotte stieß ein tropisches Inselparadies, gelegen zwischen Mosambik und Madagaskar vor der Küste Afrikas, zur Runde der Wertegemeinschaft, die seitdem eine neue Außengrenze im Indischen Ozean hat.

In Neukaledonien allerdings brodelt es derzeit. Das französische Überseegebiet, 1774 vom Briten James Cook entdeckt und 1853 von Napoleon III in französischen Besitz genommen, liegt weiter vom Mutterland entfernt als jeder andere EU-Außenposten. 16.600 Kilometer sind es von Paris bis zur Insel, die immerhin siebenmal so groß ist wie das berühmte Saarland, das Frankreich nach einer Volksbefragung in den 50er Jahren wieder an den Nachbarn Deutschland verloren hatte. 

Entsetzte Besucher

1.500 Kilometer vor Australien leben die Nachfahren der Verbrecher, die erst die Briten und später die Franzosen auf das Eiland abschoben. Aber auch die Nachfahren der Ureinwohner, von deren Sitten und Gebräuchen die ersten Besucher aus Europa Fürchterliches berichteten.  Die Grande Nation hat ihre Eroberung im Pazifik dennoch nie hängenlassen. Sie dezimierte die Kanaken - Neukaledoniens Ureinwohner - durch eingeschleppter Seuchen, gab ihnen Kriminelle und Staatsfeinde und nahm ihnen das auf der Insel reichlich vorkommende Nickel. Die immer wieder aufmuckende einheimische Bevölkerung wurde durch ein Apartheid-ähnliches System ruhiggestellt, die Ureinwohner durften dafür aber schon im Ersten Weltkrieg Soldaten für Frankreich stellen.

Nicht allen gefiel das offenbar. Immer wieder gab es Aufstände der Kanaken, selbst noch nachdem Frankreich die Kolonie nach dem Zweiten Weltkrieg zum Übersee-Territorium erklärt und allen Einwohnern die französische Staatsangehörigkeit verliehen hatte. 1947 akzeptierte die UNO die Fremdherrschaft. 1953 erhielten die Neukaledonier die französischen Bürgerrechte und 1957 durften sie sogar ein lokales Parlament wählen, das allerdings ein Jahr später auf Geheiß Charles de Gaulle schon wieder zu einer Art Folkoreveranstaltung herabgestuft wurde.

Schlag gegen Unabhängigkeit

Aus Deutschland, das seine wenigen Kolonien nie zu Überseegebieten erklären konnte, weil sie schon verloren waren, als diese Lösung Mode wurde, wird Frankreich um sein Pazifikparadies beneidet. Wie viel Ärger und Arbeit der Erhalt eines solches kolonialen Erbes aber braucht, zeigt sich in diesen Tagen, in denen eine geplante Verfassungsreform aus Sicht der Kanaken droht, alle künftigen Unabhängigkeitsbestrebungen zunichtezumachen.

Geht es nach der Regierung in Paris, bekommen Tausende französischstämmige Bürgern das regionale Wahlrecht - die Chance, es besser zu machen als beim letzten Referendums, bei dem 56,4 Prozent der Wähle für den Verbleib bei Frankreich stimmten, wäre für alle Zeit dahin.

Ausnahmezustand in der EU

Nach gewalttätigen Ausschreitungen, etlichen Toten und einer Lagem, die außer Kontrolle geraten war, hat Frankreich nun den Ausnahmezustand verhängt und wieder Soldaten geschickt, die die Unruhen beenden und Ruhe und Ordnung wiederherstellen sollen. Zum Glück mussten die Truppen nicht komplett aus der Heimat eingeflogen werden, Frankreich verfügt im nur 4.500 Kilometer entfernten Polynesien über eine Eingreiftruppe der Nationalgendarmerie, die zu Hilfe eilen konnte. Der Rat der Kanaken warf der französischen Regierung inzwischen vor, den Widerstand der großen Mehrheit der indigenen Bevölkerung durch Internet- und Ausgangssperren und Demonstrationsverbote unterdrücken zu wollen. Der internationale Flughafen ist derzeit geschlossen. 

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich noch nicht zum Aufstand mitten in der Gemeinschaft der 27 geäußert, auch der Außenbeauftrage Josep Borrell, zuständig für "Ein stärkeres Europa in der Welt", schweigt angestrengt. Ebenso halten es Vizekommissionschefin Dubravka Šuica (Demokratie und Demografie), Didier Reynders (Justiz), Ylva Johansson (Inneres), Janez Lenarčič (Krisenmanagement), Olivér Várhelyi (Nachbarschaft und Erweiterung) und Jutta Urpilainen (Internationale Partnerschaften). Auch Berlin, wo große Sorgen um zu viel Transparenz in Georgien und den Schutz der Hamas vor israelischen "Vergeltungsaktionen" (Taz) das Tagesgeschäft bestimmen, ist bisher stumm geblieben.

Freitag, 17. Mai 2024

Joko, Klaas und der Untergang: Was wäre, wenn es die EU nicht mehr gäbe?

 

Die beiden sind das Duo Infernale des deutschen Fernsehens, eine klassenfahrtwilde Doppelausgabe des WDR-Agitatoren Georg Restle, die komplizierte Zusammenhänge auf Jux und Dollerei herunterbrechen. "Joko" und "Klaas" sind für Pro Sieben das, was Jan Böhmermann für den Gemeinsinnfunk sind: Mutige Opportunisten, die stets tapfer anerkannte Mehrheitspositionen verteidigen und dabei auf ein Publikum zielen, das im Grunde genommen nicht an unangenehmen Wahrheiten interessiert ist. Spontanität ist hier inszeniert, das ausgestellte TV-Rebellentum ein Masche, mit der Preise gewonnen und Kritiker der klimaschädlichen Sendungen zum Verstummen gebracht werden.

Fernsehspiele in engen Grenzen

Für junge Menschen, die nach Orientierung suchen, sind Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf ein ähnlich bedeutsamer Anlaufpunkt wie die ZDF-Populärwissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim oder der Naturphilosoph Harald Lesch, der im Kostüm des alten weisen Mannes erklären kann, "warum Aliens keinen Kontakt mit uns wollen", warum die Alpen bald verschwinden werden und was eigentlich los ist mit der Energiewende. Joko & Klaas spektakeln mehr, sie sind die moralisch porentief reinen Erben von Thomas Gottschalk und Günther Jauch in der tabulosen Zeit der Fernsehspiele ohne Grenzen, als Witze noch dreckig und Unterhaltung ohne Erziehungsabsichten erlaubt war.

In ihrer Rolle als Volkshochschullehrer müssen die beiden Grimme-Preisträger ihre Popularität allerdings immer mal für einen guten Zweck nutzen. Dann geht es gegen Sexismus und für Menschenrechte, gegen das iranische Regime und für gerechte Löhne in der Pflege, um die Notwendigkeit von Impfungen oder Waffen, was gerade anliegt und verkauft werden muss. Kurz vor der EU-Wahl ist das nun die prekäre Gemeinschaft der 27 Staaten, die in den Jahren der Herrschaft von Ursula von der Leyen zu einem Staatenbund geworden ist, dessen Unbeliebtheit bei den Insassen so ziemlich das einzige ist, was Griechenland mit Schweden, Portugal mit Dänemark und Deutschland mit Bulgarien verbindet. 

Rettungseinsatz für die EU

Höchste Zeit für einen Rettungseinsatz von Joko & Klaas: Im Video "Was wäre wenn es die EU nicht mehr gäbe" (ohne Komma) beschwören die beiden ernsten Komödianten einen Weltuntergang herauf, der wankende und ideologisch schwankende Jungwähler davon überzeugen soll, dass es für Europa keine Alternative zur einzigen globalen Staatengemeinschaft gibt. 

Genutzt werden für die Überzeugungsarbeit die Werkzeuge des sogenannten Negative Campaigning: Weil es offenbar an positiven Argumenten mangelt, mit denen sich die anvisierten jungen und jüngsten Wahlberechtigten von der Notwendigkeit eines Kreuzes bei den Verteidigern eines immer enger zusammenwachsenden Europa überzeugen lassen könnten, verlegen sich die beiden Influencer auf die Beschwörung eines Untergangsszenarios, wenn die Wahlbürger falsch abstimmen.

Angst um den Euro

Dann, so Joko & Klaas in einem "hypothetischen Szenario", das von einer vermutlich amerikanischen "KI bebildert" wurde, wird die Welt untergehen oder doch zumindest Europa. Der "Zerfall der EU" werden Chaos auf den Finanzmärkten auslösen, Spekulanten würden sofort ihr Geld aus instabilen Ländern abziehen und der Euro, jene Stabilwährung schlechthin, die seit ihrer Einführung vor 23 Jahren etwa 45 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt hat, werde einen Kursverfall erleben. 

Aber das ist längst nicht alles. Auch die Grenzkontrollen, wie sie die EU schon seit Jahren wieder kennt,  würden zurückkehren, dazu auch Handelsbarrieren, die den freien Warenverkehr mehr noch als die neue EU-CO2-Grenzausgleichsabgabe eingeschränken würden, was zu Lieferengpässen, Preissteigerungen und einem Rückgang des Handels führe. 

EUnausweichlich stehe, das arbeiten Joko und Klaas, unterlegt mit apokalytischen Bildern einer europäischen Dystopie, liebevoll heraus, ein "Verlust von Wohlstand und Arbeitsplätzen" bevor, und das in Deutschland ganz besonders. Es käme diesmal nicht zu Bäckern, die nur eine Weile lang nicht backen, sondern "zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und einem Rückgang des Lebensstandards", begleitet von "zunehmenden Spannungen und Konflikten", weil sich "nationalistische Tendenzen", wie sie derzeit schon zu spüren sind, "verstärken und es zu Konflikten zwischen den europäischen Staaten kommen" könne. 

Fürchterliche Schicksale vor Augen

Eine Parade der apokalyptischen Reiter, die das vorüberzieht. Europa, Joko und Klaas mahnen eingedenkt der fürchterlichen Schicksale der Schweiz, Islands, Norwegens und Liechtenstein, wären einzeln gegenüber Großmächten wie China und Russland deutlich schwächer. Niemand würde mehr auf Josep Borrell hören, den eingeschworenen Verteidiger Palästinas, der es trotz einer Verurteilung wegen Insiderhandels auf den Posten des "EU-Außenbeauftragten" geschafft hat und dort noch nachdrücklicher als Annalena Baerbock Mahnungen an Israel und tiefes Schweigen an den Iran schickt. Zudem: Jeder würde dann wohl venezolanische Präsidenten anerkennen, wie er gerade lustig ist, oder gar neue Staaten anerkennen, die benachbarte frühere Wertepartner für nicht anerkennungswürdig halten.

Die schrecklichen Folgen lägen auf der Hand. Die Abschaffung der gemeinsamen Umweltstandards der EU, die die EU-Kommission und das EU-Parlament eben erst beschlossen hatten, um die Bauern zu besänftigen, würde weitergehen, "was zu einer Verschlechterung der Umweltbedingungen führen könnte" (Joko & Klaas). Es gäbe Schwierigkeiten im Gesundheitswesen, weil ein "Mangel an Ärzten und Pflegepersonal" drohe. Und nicht zuletzt wäre ein Verlust der kulturellen Vielfalt absehbar: "Die EU hat zur Förderung der kulturellen Vielfalt in Europa beigetragen. Ihr Zerfall könnte zu einem Verlust dieser Vielfalt führen." Der Schuhplattler würde siegen, der Tango Deutschland verlassen. Afrikanisch inspirierte Trommelkurse würden verboten, der Jazz müsste zurück in den Untergrund.

Das Publikum ist den beiden Spaßvögeln auf ernster Mission dankbar für die Warnungen. "Viele verstehen wahrscheinlich gar nicht, wie wichtig die EU für jeden einzelnen von uns ist, auch weil man das im normalen Leben vielleicht gar nicht so spürt", schreibt einer, bei dem die Botschaft angekommen ist.  Er wird seine akute Angst vor der Apokalypse hoffentlich in ein Kreuz an der richtigen Stelle verwandeln.

Hitzewinter: Abstimmung mit dem Ofen

Eine private Firma bietet private Hitzeschutzpläne an, derzeit mit 35 Prozent Klimarabatt.

Der Februar war warm, der März hatte dann schon zu heiße Tage. I April schließlich geriet alles aus den Fugen. Es war Sommer, wie Peter Maffay weitsichtig bereits in den Siebzigern vorausgeahnt hatte. Nachdem zuvor schon der heißeste Oktober, ein heißester November, ein überaus heißer Dezember und ein viel zu warmer Januar Ströme von Angstschweiß versetzt hatten, schrillten nun die Alarmglocken. Nichts schien etwas genutzt zu haben, nicht der Atomausstieg, nicht die Solaroffensive und der beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren oder der Hitzeschutzplan des Bundesgesundheitsministers.

Schneller als alle anderen

Europa untermauerte eindrucksvoll seinen Ruf als der Kontinent, der sich noch schneller erhitzt als all die anderen, die sich noch schneller erhitzen als alle anderen. Die Tropen rücken nach Norden, unaufhaltsam. Und kaum hatte der April 2024 sich als elfter Monat in Folge zu warm verabschiedet, stellt sich nun auch noch heraus, dass die Menschen im Land ofenbar nicht genug davon bekommen können.

Nach Berechnungen des Immobiliendienstleisters Ista auf Basis der monatlichen Heizdaten von 350.000 Wohnungen nicht nur die Heizkosten der Verbraucher im vergangenen Jahr gestiegen, weil die Kosten je Kilowattstunde im Vergleich zu 2022 im Schnitt bei Fernwärme um sieben Prozent, bei Heizöl um 34 Prozent und bei Erdgas um 44 Prozent kletterten. Sondern auch der Energieverbrauch wuchs ungeachtet der deutlich wärmeren Witterung. Der Heiz-O-Mat, mit dem das Unternehmen die Wärmewende anheizen will, zeige einen Widerspruch zwischen tatsächlichem Heizverhalten und der wachsenden Sorge vieler Menschen um höhere Heizkosten.

So warm, dass alle heizen

Und dann noch dieser Fall der "Temperaturrekorde fallen in Serie" (Der Spiegel). Keiner kennt sich mehr aus. Es war so warm, dass eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern mehr heizen mussten. Eine Abstimmung mit dem Ofen, die nach Angaben von Ista in den 20 größten deutschen Städten einheitliche Ergebnisse erbrachte: Nur Mieter in Stuttgart heizten weniger als im Vorjahreszeitraum, aber auch nur ein Prozent. Dresden und München gönnten sich hingegen zwei Prozent Mehrverbrauch, Bielefeld sogar zwölf Prozent. Ganz Deutschland kam im wärmsten Winter aller Zeiten auf fünf Prozent mehr Heizleistung als ein Jahr zuvor.

Auch im Januar 2024, wissenschaftlich gründlich vermessen "der wärmste jemals gemessene Januar",  hielt sich kaum jemand an die offiziellen Empfehlungen des Klimawandeldienstes der Europäischen Union, der dem Monat ein Plus von 0,7 Grad gegenüber der Durchschnittstemperatur des Referenzzeitraumes bescheinigte. "Witterungsbedingt", heißt es im Heiz-O-Meter von Ista, sei der Mehrverbrauch im Vergleich zum Vorjahresmonat besonders deutlich ausgefallen: "Infolge der kühlen Witterung stieg der Wärmeverbrauch um 23 Prozent". 

Lag es fehlenden Tempolimit? Waren die Bauernproteste schuld? Oder fehlt es den Menschen immer noch an Einsicht in die Notwendigkeit, dass heimische Hitze doppelt bezahlt wird - mit Geld und einem verpassten Pariser Klimaziel?

Donnerstag, 16. Mai 2024

Große Sorge: Lockt die Atombombe genügend Wähler?


Einmal tauchte sie bisher außerhalb der kleinen verschwiegenen sozialdemokratischen Zirkel auf. Katarina Barley, die Spitzenkandidatin der deutschen Sozialdemokratie für die anstehende EU-Wahl ("Europa-Wahl"), forderte in aufsehenerregenden Interviews zum Wahlkampfauftakt eine eigene Atombombe für Brüssel und Berlin, um die Demokratie zur Not auch mit dem allerletzten Mittel verteidigen zu können. Das Echo war überwältigend: Barley, bis dahin als strategisches Leichtgewicht unterschätzt, war plötzlich ein echter Faktor auf der internationalen Bühne.  

Im Zeichen des Sowjetsterns

Im Zeichen des ausgestanzten Sowjetsterns im Zuschnitt der ruhmreichen Sowjetarmee schickte sich die 55-Jährige an, der bis dahin so siegessicheren Ursula von der Leyen ernsthaft Paroli zu bieten. Ein Ding der Unmöglichkeit, so hatten Beobachter eigentlich zuvor geglaubt. Um die Wahlen in den 27 Mitgliedsstaaten nicht zu verlieren, hatte sich die mit allen europäischen Wassern gewaschene Taktikerin von der Leyen schließlich zwar mit großem Pomp zur "Spitzenkandidatin" der Europäischen Volkspartei ausrufen lassen. Es aber tunlichst vermieden, selbst als Kandidatin zur Wahl anzutreten. Erstmals bei einer Wahl weltweit steht damit eine Spitzenkandidatin nicht selbst zur Wahl. Sie trägt den Titel nur ehrenhalber, um in der "Tagesschau" jeweils als "Spitzenkandidatin" vorgestellt werden zu können.

Verlieren ist für von der Leyen verboten, es ist angesichts der klug geschnittenen Ausgangslage aber auch unmöglich. Verlieren wird Katarina Barley, obwohl sie die geplante große Werbekampagne mit dem Sowjetstern unmittelbar nach den ersten Hinweisen auf die unausweichlichen historischen Assoziationen einstampfen ließ und nun einem Hauch Schulz'schen Nationalismus den Vorzug gibt. Ja, die Kommissionspräsidentin teilt mit ihrer SPD-Konkurrentin das traurige Schicksal, Berlin und die deutsche Politik einst überhastet verlassen haben zu müssen. Von der Leyen war von der eigenen Kanzlerin nach Brüssel verbannt worden, als der Boden für sie, die so lange favorisierte Thronfolgerin, in Berlin aufgrund der seinerzeit aufgeregt verfolgten SMS-Affäre zu heiß wurde. 

Per Bannstrahl nach Brüssel

Katarina Barley traf ein Bannstrahl aus der Parteizentrale: Andrea Nahles fürchtete die vergleichsweise frisch wirkende und mit ungewöhnlichen Thesen hausierende Kölnerin, die es mit Zahlen und Wirtschaft nicht so hat und dadurch immer automatisch auf Augenhöhe mit dem gesamten SPD-Vorstand argumentiert. Aus Furcht, selbst  ausgebootet zu werden, entsandte die Vordenkerin der "Guten Gesellschaft" die führende Vertreterin der "Generation Parteiarbeiter" ins ferne Europa, wo Katarina Barley wie erhofft in einem tiefen Loch aus Bedeutungslosigkeit verschwand.

Sich aus dem herauszuarbeiten, schien der amtierenden Präsidentin des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschland mit der Atombombenforderung kurzzeitig zu gelingen. Doch wie der nachfolgende dramatische Spannungsabfall im Wahlkampfgetümmel zeigen auch die Hilfsmittel, derer sich Barley beim Kampf um die Köpfe bedienen muss, wie verzweifelt die frühere Familien-, Arbeits-, Sozial-, Justiz- und Verbraucherschutzministerin um Wahrnehmung betteln muss. 

Hohlkammer A0

Barley gibt Kindern Interviews, sie spricht mit dem parteieigenen RND und mit dem ADAC und sie ist bereit, "EU Kandidierenden-Doppelplakate" im Format "Hohlkammer A0" (SPD) aufhängen zu lassen, die auf alle zuvor geplanten inhaltlichen Festlegungen verzichten und einfach nur "Deutschland stärkste Stimmen für Europa" bewerben. Katarina Barley hoffe damit, dass "ihr Einsatz für Demokratie in Europa endlich wahrgenommen" werde, hat der "Tagesspiegel" bei einer Autopsie der bisherigen Wahlkampfanstrengungen der SPD-Spitzenkandidatin festgestellt. Doch vergebens. 

Nicht nur, dass Barley kaum einem Wähler bekannt ist, nein, den wenigen, die bereits von ihr gehört haben, erscheint die frühere SPD-Generalsekretärin oft auch noch als Spitzenkandidatin der europäischen Sozialdemokratie. Damit allerdings verstellt Katarina Barley dem echten Spitzenkandidaten Nicolas Schmit damit die Sicht auf die Völker Europas - und dem deutschen Volk die Sicht auf den Mann, den die "Party of European Socialists", die sich aus historischen Gründen in Deutschland lieber "Sozialdemokratische Partei Europas" nennt, gern als nächsten Kommissionschef installiert sehen würde. 

Der unsichtbare Kandidat

Der 70-jährige Luxemburger, der seit 1979 auf allen Verwaltungsebenen gedient hat und derzeit als Kommissionsmitglied für Arbeit und Soziale Rechte dafür sorgt, dass alle "EU-Menschen vor den multiplen Krisen geschützt werden", wird weder plakatiert noch absolviert er Wahlkampfauftritte, der "Spitzenkandidat" kommt in deutschen Medien nicht vor, er betätigt sich seit März nicht mehr bei X, seit letzten Herbst nicht mehr bei Facebook, er betreibt keine eigene Wahlkampfseite und der eine Versuch seiner deutschen Genossin, ihn beim chinesischen Datenschutzportal TikTok jungen, fetzigen Neuwählern schmackhaft zu machen, endete vor einem Auditorium von nicht einmal 1.500 Zuschauern.

Politisch gesehen ist Mitte Mai natürlich auch schon alles vorbei. Die ersten Briefwähler haben ihre Kreuze gemacht, die schrecklichen Umfragewerte der SPD werden sich nicht mehr groß ändern. Die Schlacht und es fiel nur ein Schuss: Die verrückte Idee mit der Atombombe wird Historikern im Nachhinein vermutlich als einzig origineller Beitrag der sozialdemokratischen Verfechterin "hoher Arbeitsstandards" und einer "Migrationspolitik, die den Werten der Europäischen Union entspricht" auffallen. 

Genügend Wählerinnen und Wähler aber wird auch dieser verzweifelte Versuch, alte Fake News als neue Wahrheiten zu verkaufen, nicht überzeugen.

Selber schuld: Wer nicht hören will

Ein bisschen vom "Brunnenvergiften" steckt auch drin.

Tja. Das hätte er doch wissen können. Die Schüsse auf den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico waren kaum verhallt, da verwandelte sich das mediale Entsetzen schon in ein achselzuckendes Aber naja. Nach dem "Attentat auf den slowakischen Premier" erklärte der "Spiegel", "wie Fico das Klima in seinem Land mit vergiftet hat". Im MDR lieferte ein Korrespondent aus dem Nachbarland Tschechien fast baugleiche Erklärungen, zur Überraschung der Zuschauer in Mitteldeutschland. Seit Wochen seien Zehntausende schon bei Protestdemonstrationen auf den Straßen, weil Fico das Land gespalten habe.

Langer Urlaub

Der Mann muss Urlaub gehabt haben, sehr lange sogar. Denn von den besagten Protesten hatte er seinen Sender und dessen Zuschauer bis dahin kein Sterbenswort wissen lassen. Aber damit war er nicht allein: Deutsche Medien behandeln das EU-Partnerland auch nicht anders als alle anderen 25. So lange keine Rechtspopulisten nach der Macht greifen, Spanien sich zu spalten droht oder Macron zu den Waffen ruft, sind Griechenland, Portugal, Dänemark, Kroatien und Malta genauso weit weg wie Chile, Malaysia oder Alaska. Ausnahmen wurde zuletzt häufiger für Polen und Ungarn gemacht, die die Rechtsstaatlichkeit verletzten. Polen ist inzwischen vom Haken. Die Auslandsberichterstattung hätte sich fortan komplett auf Schurkenstaaten wie Ungarn, Russland und China konzentrieren können.

Nun aber Fico, der Mann, der die Slowakei einst in den Schengen-Raum und die Euro-Zone führte, zuletzt aber mit seiner Ablehnung der EU-Flüchtlingspolitik negativ auffiel. Fico provozierte zugleich mit der Weigerung, Waffen an die benachbarte Ukraine zu liefern und er nannte einen angeblichen "Multikulturalismus" eine "Fiktion", die nicht funktionieren könne. 

Nachdem er erklärt hatte, dass der "Islam keinen Platz in der Slowakei" habe, exkommunizierte die "Party of European Socialists", im Deutschen lieber als Sozialdemokratische Partei Europas übersetzt, mit einem Ausschluss seiner Partei Slovenská Sociálna Demokracia⁠ aus dem gemeinsamen Non-Profit-Association auf europäischer Ebene.

Es wird dann doch "Entsetzen"

Mit jemandem, der so auffällig wird, pflegt man natürlich gern einen anderen Umgang als mit Leuten, die man gut leiden kann. Während deren Schicksal nur rührt, so sehr, dass auch in der zweiten Woche nicht einmal irgendwo gefragt wird, ob die Schläger den sächsischen Spitzenkandidaten der stolzen Socialists tatsächlich erkannt und deshalb verprügelt, oder einfach nur einen SPD-Wahlkämpfer entdeckt und ihn überfallen haben, wie irgendwer jeden Tag irgendwo Politiker angreift oder ihre Autos oder Häuser anzündet. "Ein bisschen Emotionalität, ein bisschen Verwirrtheit", heißt es im ZDF-Morgenmagazin, müsse "schon dabei sein", bei einem "mutmaßlichen Attentat" (Spiegel).

Die Schuldfrage steht nun überall. Ein "Schock mit Vorgeschichte", befindet die "Tagesschau". Nun stehe die Slowakei "am Rande des Bürgerkrieges", befindet Euronews. Robert Fico habe ja "die Demokratie gefährdet" (T-Online), der "Populist und Putin-Freund" (Tagesspiegel) darf sich nun eigentlich nicht wundern, denn wer so "muslimfeindlich und korrupt" (Morgenpost) agiert, für den gilt, dass er sich nicht wundern darf.

Robert Fico hätte sich früher überlegen müssen, was er anrichtet, wenn er trotz aller Warnungen aus Berlin und Brüssel "sein Land umbaut" (Euractiv, "The Trust Project"). Das RND hat gemahnt, denn die Sorge in der EU, dass es "Pro Putin statt pro Europa" weitergehen werde, war unüberhörbar. Die "Tagesschau" sah den früheren Vertreter der Slowakei vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von Orban lernen. Er hat nicht hören wollen. Und nun muss er fühlen. Zumindest ein paar Stunden lang. Später änderte der "Spiegel" die Selbst-schuld-These dann doch noch auf das unverfängliche "Entsetzen in einem gespaltenen Land".

Mittwoch, 15. Mai 2024

Volksverpetzer: Ende eines Steuersparmodells

Wirkungstreffer für die engagierten Spesenritter eines Steuersparmodells: Das Hassportal Volksverpetzer ist nicht mehr gemeinnützig. 

Thomas Laschyk hat sein Leben und seine Arbeitszeit dem Ziel gewidmet, das Böse zu bekämpfen. Als "Volksverpetzer" schürt er den Hass auf falsche Meinungen, er schmiert vermeintliche Feinde der Gesellschaft öffentlich aus, rückt die FDP in die Nähe des Rechtsextremismus und die Union in die Nähe des Rechtspopulismus

Was nicht richtig links war, war rechts und unter dem Signet der vier guten Fahnen - Ukraine, Regenbogen, EU und Transgender - verlieh Bayerns populistischer Ministerpräsidenten Markus Söder dem auf Hass spezialisierten Portal den Augsburger Medienpreis. Söder lobte die "stillen Helden, die viel Zeit darin investieren, sich allen Widrigkeiten zum Trotz im Rauschen der Informationen zurechtzufinden, und Behauptungen von Fakten trennen."

Gestrichene Fakten

Dass der Volksverpetzer dann in der Regel die Fakten strich und seine Behauptungen veröffentlichte, um die öffentliche Meinung etwa gegen den störrisch ungeimpften Joshua Kimmich in Stellung zu bringen, bescherte seinem Trägerverein über Jahre nicht nur allgemeines Lob in den Leitmedien, die so offen oft nicht zu agieren wagen, sondern auch den Status der "Gemeinnützigkeit", die Spendern aus der Zivilgesellschaft und großen Firmen Steuerersparnis verspricht, wenn sie den "Chefpetzen der Nation" (Avandoo) Geld zur Verfügung stellen statt es zum eigenen Vergnügen oder einen sinnvollen Zweck auszugeben.

"Faktenchecks", in denen die Redaktion ausgesuchte Fake News so lange dreht und wendet und um Teile des Inhalts erleichtert, bis das Ergebnis der "Analyse" zu den eigenen Erwartungen an die Wirklichkeit passt, wurden so nicht nur zum Beruf von Gründer Laschyk, ein paar Teilzeitarbeiter und Minijobber, sondern auch zu einem Steuersparmodell. Die Gesellschaft leistete sich den Luxus, kaum verhohlene Beleidigungen gegen einen Teil der Bevölkerung mit Steuergeld zu subventionieren, düstere Fantasien vom Untergang der Demokratie aus der klammen Kasse des Finanzministers zu prämieren und die Verbreitung von Lügen als bürgerschaftliche Tat anzuerkennen.

Entsetzen bei den Petzen

Umso größer das Entsetzen bei den Volkspetzen nun, als das Finanzamt in Berlin dem Projekt rückwirkend die Gemeinnützigkeit entzog. Selbstverständlich waren die Aktivisten, die sich beim Volksverpetzer als Volksaufklärer ausgeben, der Meinung, die Verbreitung ihrer jeweiligen Meinung zu allerlei Themen müsse von der Gemeinschaft der Steuerzahler alimentiert werden, weil es sich dabei um die einzig richtige Meinung handelt. Angesichts des Umstandes, dass nach Volksverpetzer-Rechnung auch zehn Jahre nach dem Start des Projekts noch 62 Prozent der deutschen Wähler aller Altersgruppen, Herkünfte, Religionen und Überzeugungen als rechts gelten, bleibt noch viel zu tun für die Spesenritter der Steuerkassen. Viel zu tun, was nun womöglich liegenbleiben muss.

"Diese Entscheidung kostet uns jetzt nicht nur jede Menge Geld, auch vom zukünftigen Support bleibt jetzt viel weniger übrig, um unser Engagement im Kampf gegen Desinformation und die Feinde der internationalen Gesinnung möglich zu machen", klagt Gründer Thomas Laschyk in einem Bettelbrief an die Unterstützer jener "internationalen Gesinnung". Man dürfe künftig zwar "weiter Spenden annehmen, nur keine Spendenquittungen mehr ausstellen". Offenbar hat das Finanzamt Zweifel daran, dass der Trägerverein des "Volksverpetzers" tatsächlich ausschließlich gemeinnützige Zwecke verfolgt und seine Tätigkeit "ausschließlich und unmittelbar darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern".

Lobbyarbeit ist nicht gemeinnützig

Bei der vor geraumer Zeit gerühmten X-Alternative Mastodon, der altlinken Widerstandsgruppe Attac und der Petitionsplattform Campact waren die Finanzbehörden zuvor schon zum Schluss gekommen, dass das politische Ziel der Beeinflussung der öffentlichen Meinung nicht zwingend gemeinnützig sein müsse. Jeder darf das. Aber niemand kann verlangen, dass andere dafür zahlen, dass er sich die Welt zurechtdreht, wie sie ihm gefällt. 

Chef-Volksverpetzer Thomas Laschyk zeigt in seinem Solidaritätsaufruf an die Gemeinde der Gläubigen, was damit gemeint ist: "Wenn du jetzt wütend sein solltest, dass jemand wie Volksverpetzer nicht gemeinnützig ist, aber zum Beispiel eine Partei wie die AfD Millionen vom Staat bekommt, richte deinen Protest bitte nicht gegen das Amt, die machen nur ihren Job", ruft er zum Widerstand, indem er die verlorene Gemeinnützigkeit seiner Internetseite fingerflink gegen die "Millionen vom Staat" in Stellung bringt, die eine Partei erhält, die nie gemeinnützig war und es nie sein wird, weshalb die "Millionen" aus vollkommen anderen Gründen und vollkommen anderen Quellen fließen.

EU-Migrationspaket: Innen an den Außengrenzen

Eine EU-Außengrenze von außen. Innen kommt dann das Lager an der Außengrenze hin.

Das wird ein Quantensprung, ein Neuanfang, ein gemeinsamer großer Wurf. Neun Jahre nach der für "in 14 Tagen" angekündigten europäischen Lösung für das Zustromproblem Europas ist es nun so weit: Auch das EU-Parlament in Brüssel hat dem EU-Migrationspaket kurz vor Dienstschluss noch zugestimmt.

Schärfere Regeln

Die "schärferen EU-Asylregeln" (Spiegel) sind damit "endgültig beschlossen". Nach einem Jahrzehnt des Streits und des Haders greifen nun bald nicht nur Unterstützungsmaßnahmen für EU-Staaten, in denen besonders viele Migranten ankommen, finanziert von denen, die niemanden aufnehmen sollen. Sondern auch sogenannte "schnelle Asylverfahren an den EU-Außengrenzen", eine magische Idee aus dem Mai vergangenen Jahres, die sich an der britischen Ruanda-Lösung orientiert, ohne allerdings das gleiche Maß an brutaler Unmenschlichkeit so demonstrativ heraushängen zu lassen, dass Reiselustige in aller Welt ihre Pläne ändern.

Ja, es ist zweifelsohne die wichtigste Änderung im Vorfeld der anstehenden EU-Wahlen: Ein Teil der Asylverfahren soll künftig "direkt an den Außengrenzen" stattfinden. Wer aus einem Land mit einer niedrigen Anerkennungsquote kommt, muss dort ausharren, bis wie früher nach ganz individuellen Gesichtspunkten über seinen Antrag entschieden ist. 

Das soll ganz besonders flott gehen, ein paar Wochen, dann steht das Urteil. Anschließend, so ist es geplant, führt der negative Bescheid sofort zur Abschiebung. Die Mitgliedstaaten hoffen, so abschreckende Beispiele dafür zu schaffen, dass sich sogenannte irreguläre Migranten gar nicht mehr auf den Weg machen, weil sie wissen, dass nach ein paar Wochen Lagerhaft "an der Außengrenze" die Heimreise ansteht.

Strong against smugglers

Ein "Eigentor" nennt das teilstaatliche Portal T-Online, der Deutschen liebste Nachrichtenquelle, die Sprachformel, deren Verabschiedung EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola zum "historischen Tag" erklärt hat, weil sie "strong against smugglers" sei. Ein starkes Zeichen nach innen wird damit gesetzt, denn die in Deutschland standardmäßig benutzte Formulierung "an den Außengrenzen" soll betonen, dass niemand reinkommt, der gleich wieder rausmuss. 

"These migrants will not be allowed to enter the country's territory and instead be kept at facilities on the border", umschreibt es die Asylum Procedures Regulation (APR) genannte neue Regelung auf Englisch. Wegen geringer Chancen auf Asyl aussortierten Schutzsuchenden wird also nicht erlaubt, das Territorium der EU zu betreten.

Die "Asylverfahren an den Außengrenzen" finden damit also wohl in Nachbarstaaten statt, die nicht zu EU gehören, Bosnien, Albanien, Mazedonien, Norwegen und die Schweiz  hätten dann die Lager zu bauen, in denen die Schnellverfahren in höchsten zwölf Wochen stattfinden. 

"An den Außengrenzen", betont die "Zeit", drohe damit "ein härterer Umgang mit Migranten", denn "jede und jeder muss nach der neuen EU-Asylreform künftig an den EU-Außengrenzen strikt kontrolliert und registriert werden". Wer nur geringe Aussicht auf Schutz in der EU habe, werde ein rechtsstaatliches Asylverfahren "an den Außengrenzen" durchlaufen und im Fall einer Ablehnung von dort direkt nach Hause zurückkehren müssen.

Keine Lager außerhalb

Dass von Verhandlungen mit den künftigen Lagerländern bisher so wenig zu hören war, wo doch die Reform die irreguläre Migration begrenze und die Länder, die besonders stark betroffen seien, wie der Bundeskanzler freut kommentiert, liegt an einem Kniff, der aus der Übersetzung der  Abschottungsrevolution in die Formulierung vom "wirksamen Grenzschutz an den Außengrenzen" nicht sofort ersichtlich wird. 

Denn Lager außerhalb der EU wird es nicht geben, mit "an den Außengrenzen" ist in Wirklichkeit "innerhalb der Außengrenzen" gemeint - wer kommt, darf weiter herein, ein echter Zaubertrick, wie ihn vielleicht wirklich nur die EU zu bewirken vermag, verleiht ihm jedoch gleichzeitig den Status "legal fiction of non-entry". Er ist zwar faktisch drin. Aber praktisch weiter draußen.

Ein Rezept auch gegen die extremen Rechten, die bei der Europawahl in mehreren EU-Staaten zu triumphieren drohen. Eine EU-Lösung aber vor allem, die quantenphysikalische Qualitäten hat. Es wird keine Verlegung von Asylverfahren in Drittstaaten geben, aber auch keinen Zustrom mehr, der in den Mitgliedsstaaten mühsam verwaltet werden muss. Das Aufatmen in Brüssel sei groß, berichtet T-Online, auch wenn "viele rechtliche Fragen sind noch offen" seien. 

Geklagt darf weiter werden

Denn dass sich ein Asylsuchender in einem Land befindet und nicht in einem anderen, verändert seine Rechtsstellung: Ein Mensch, der im Sudan, in Afghanistan oder in Bangladesch einen Asylantrag an deutsche oder Behörden anderer EU-Staaten stellt, kann gegen eine Ablehnung nicht klagen. Wer aber erst einmal den Boden der Gemeinschaft betreten hat, kann sich auf Artikel 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berufen, nach dem jeder, der vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden in seinem Herkunftsland flieht, ein Anrecht auf Schutz hat.

An den Außengrenzen, aber im Land, wenn auch als mit der juristischen Fiktion der Nichteinreise vorsortiert, ändert nichts am Recht auf den Rechtsweg. Das Bundesinnenministerium bestätigt das: Richtig sei, dass auch "in Außengrenzverfahren Asylanträge nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geprüft" würden und alle Schutzsuchenden bei Ablehnung ihres Antrags Klage erheben könnten. "Zudem kann im Außengrenzverfahren ein Antrag auf aufschiebende Wirkung der Klage gestellt werden, bis zum Abschluss der gerichtlichen Prüfung dieses Antrags werden Schutzsuchende nicht zurückgeführt."

Außengrenzen mit allen Rechten

"An den Außengrenzen" bedeutet also genaugenommen innerhalb der Außengrenzen, mit allen Rechten, denn die "Grenzverfahren nach der Asylverfahrens-Verordnung werden an den Außengrenzen ausschließlich von EU-Mitgliedstaaten auf deren Hoheitsgebiet und nicht in Drittstaaten durchgeführt", wie das Bundesinnenministerium Gerüchte zurückweist, die von der zuletzt boomenden Pflichtformulierung ausgelöst wurden.

Gerüchte, die Innenministerin Nancy Faeser selbst befeuert hatte, als sie auf dem Höhepunkt der AfD-Umfrageerfolge im letzten Herbst "Asylverfahren außerhalb der EU" in Erwägung zog und versprach, dass die Bundesregierung prüfen werde, "ob die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Transit- oder Drittstaaten erfolgen kann". 

Ein Ergebnis wurde nicht bekannt und nun wird es auch nicht mehr gebraucht. Mit der Verkündung der Reform ist Druck aus dem Thema raus, wenigstens für die Zeit "innerhalb der nächsten zwei Jahre" bis zur "Umsetzung" (DPA) der Regeln, die immer schon galten, an die sich nur niemand hielt.

Dienstag, 14. Mai 2024

Verbalgewalttäter: Die Macht des Meinungsfreiheitsschutzes

Saskia Esken hat Verbalgewalttätern eine klare Ansage gemacht: Die SPD wird gesprochene Übergriffe nicht länger dulden, sondern den Meinungsfreiheitsschutz entsprechend anpassen. Abb: Kümran, Kaltnadelredierung, mosaikiert

Seit sie damals als Vorstand des Landeselternbeirats Baden-Württemberg illegal den E-Mail-Verkehr von Mitarbeitern ausspioniert und anschließend rechtswidrige Kündigungen ausgesprochen hat, eilt Saskia Esken der Ruf einer Frau voraus, mit der nicht zu spaßen ist. Als Bewerberin um den Vorsitz der SPD stach sie mit Hilfe ihres Chefstrategen Kevin Kühnert weitaus prominentere Bewerber aus, darunter den heutigen Bundeskanzler.  

Weg von der Schröder-Linie

Als Parteichefin rückte sie die deutsche Sozialdemokratie dann entschlossen weg von der Schröder-Linie mit ihrem wirtschaftsfreundlichen Neoliberalismus. Und dorthin, wo Bürgerinnen und Bürger sich ihr Kreuz auf dem Wahlschein gegen das Versprechen umfassender Betreuung und Bemutterung abhandeln lassen. 

Ein strategischer Erfolg nicht nur für die SPD, die seit 2021 wieder einen Kanzler stellt. Sondern auch für die 62-jährige Saskia Esken, die nach außen hin oft kantig und biestig wirkt, für Autogrammkarten aber schon mal bürgernah mit einer "Sigma"-Gitarre posiert, der Billigmarke der US-Edelmanufaktur "Martin & Son", die klingt wie Esken selbst: Etwas schriller als andere, aber um einiges ehrlicher auch. Für 319 Euro liefert die Wanderklampfe genau das, was sie verspricht.

Kein Widerspruch nirgendwo

Und das tut auch die immer noch amtierende SPD-Vorsitzende, die trotz der ernüchternden Umfragezahlen ihrer Partei unumstritten ist. Niemand in der bel étage der ältesten deutschen Partei widerspricht der staatlich geprüften Informatikerin noch. Niemand stellt den Kurs infrage, der die SPD weg von der Arbeiterschaft, den kleinen Angestellten und der hart arbeitenden Mitte und direkt in die Milieus des beamteten Bionadeadels, der unterkomplexen, aber staatlich geförderten Aktivistenszene und der vom Kollektivismus träumenden Alt-Sozialisten geführt hat.

Die Partei, ehemals eine Formation, die für 40 Prozent der Stimmen gut war, ist auf ein Drittel davon geschrumpft. Die SPD wird ihr ab 2025 an der Seite der Union suchen müssen, wieder Juniorpartner einer Großen Koalition, wieder nach einer Legislaturperiode aus dem Kanzleramt verabschiedet, wieder gewogen und für zu leicht befunden. Bis dahin aber will Saskia Esken noch Pflöcke einschlagen wie SPD-Innenministerin Nancy Faeser, die ihrem Lebensziel, alle Bürgerinnen und Bürger vorsichtshalber immer zu überwachen, zuletzt schon ein großes Stück nähergekommen war. 

"Gewalt in der Sprache"

Was Faeser die Vorratsdatenspeicherung ist Esken der Meinungsfreiheitsschutz. Weil die "bisherige Politik der Ampel-Regierung werde nicht so wahrgenommen wird wie erhofft", setzt die SPD-Bundesvorsitzende nun auf den Kampf gegen "Gewalt in der Sprache". Dabei handelt es sich um eine um den "Zustrom" (Angela Merkel) 2015 herum entstandene Angstfantasie, die sich um eine "Verrohung" (Der Spiegel) dreht. Deren Wesen besteht darin, dass sie sich nicht mehr in körperlicher Gewalt zeigt, keine Faustschläge, Ohrfeigen oder Tritte braucht, sondern sogenannte "Äußerungsdelikten" benutzt. Als "verbale Gewalt" gelten etwa gesprochene Übergriffe wie die Bezeichnung von Politikern als "Volksverräter", Goebbelsvergleiche, die Beschimpfung von Medien als "Lügenpresse" und die von Demonstranten als "Pack"

Alle diese Bezeichnungen schmerzen Betroffene seit der Erfindung der "verbalen Gewalt" wie Faustschläge und ersetzen damit traditionelle körperliche Übergriffe. Vor 20 Jahren noch vollkommen unbekannt, liefert die Erfindung der "verbalen Gewalt" fürsorglichen Politikernden wie Saskia Esken heute immer wieder Anlass und Gelegenheit, die Ursachen für "erneute Fälle von Gewalt gegen Politiker" in einer "verrohten Sprache" (Esken) zu finden. Die Logik dahinter ist einfach genug und sie erzählt ganze Bände über das Menschenbild, das nicht nur Saskia Esken verinnerlicht hat: Wer schimpft, der schlägt auch zu. Wer heute meckert, wird morgen schießen.

Ein Auge drauf

Das muss verhindert werden und Saskia Esken weiß auch, wie am besten. "Da müssen wir im Netz, aber natürlich auch im täglichen Leben ein Auge darauf haben, dass auch alles strafverfolgt wird, was in der Sprache strafbar ist", hat sie das neue Konzept gegen "diese Gewalttaten", die "ja Folgen von Gewalt in der Sprache" seien, umrissen. Dagegen braucht es nicht nur härtere Strafen und Verabredungen der im Bundestag vertretenen Parteien des demokratischen Blocks, sich in der politischen Auseinandersetzung verbal zu mäßigen und abzurüsten, sondern eine ausgeweitete Aufsicht der Behörden über gewalttätige Äußerungsdelikte. 

16 Jahre nach der Anweisung von Eskens Vorgänger Kurt Beck, dass "Foren, die erkennbar Funktions- und Mandatsträger diffamieren, unzulässig" seien, wird es ernst im Kampf um einen erweiterten Meinungsfreiheitsschutz. Worte werden behandelt wie Taten, der Satz "Ich knalle Dir eine" wird einem Faustschlag gleichgestellt, die Offenbarung "ich könnte Dich umbringen" kann als Mordversuch angeklagt werden. Ein alter Traum des damaligen Justizministers Heiko Maas geht in Erfüllung. Niemand muss mehr etwas tun, um Täter zu sein. Es reicht, davon zu sprechen. Perspektivisch wird dann natürlich nicht nur "alles strafverfolgt, was in der Sprache strafbar ist". Sondern bald auch das, was sich an Strafbarem in den Köpfen abspielt.

Gaza-Tote im Kleingedruckten: Sie leben

Hohe Zahlen verkaufen gut, stellen sie sich als Fake News heraus, muss das nicht an die große Glocke gehängt werden.

Als die Zahlen noch für waffentauglich gehalten wurden, hatten sie allerhöchstes Schlagzeilenpotenzial. Die sogenannten "Uno-Angaben", handgemachte Übersetzungen der von der Terrororganisation Hamas gemeldeten Todesopfer, kamen zu höchsten Ehren. Der "Spiegel" und das RND, die "Tagesschau", "Heute" und alle an die Nachrichtenagentur DPA angeschlossenen Abspielanstalten wollten ein Stück vom großen Kuchen des Grauens. Der Jude mordete wieder. Er übertrieb es mit der Selbstverteidigung. Er war schlimmer als immer und Berlin mahnte mehrfach. Geschichte hin, Verpflichtung her. Eines Tages würde ihm Außenministerin Annalena Baerbock dieses Treiben nicht mehr durchgehen lassen können.

Verteidigung im Vakuum

Die Vereinten Nationen, eine Weltorganisation, die immer schon besorgt und misstrauisch auf eine der beiden Konfliktparteien im Nahen Osten schaut, konnte nicht mehr hinsehen. Weltverwaltungsleiter António Guterres, von dem zum Bürgerkrieg in Äthiopien in vier Jahren nur zwei Äußerungen von Besorgnis überliefert sind, sah schon nach einem Monat der israelischen Verteidigungsaktion den Bogen überspannt. Dies hier sei "eine Krise der Menschheit", die quasi im "Vakuum" (Guterres) ablaufe und eine "beispiellose" Zahl an Opfern fordere. Eine "sich entfaltende Katastrophe", sagte Guterres, "Gaza wird zu einem Friedhof für Kinder."

António Guterres ist 75 Jahre alt. In seine Dienstzeit als aktiver Politiker fallen nicht nur der Tigray-Krieg, sondern auch die Völkermorde in Ruanda, die verschiedenen Afghanistan-Kriege, das Schlachten in Darfur und der Ukraine-Krieg. Überall gab und gibt es Friedhöfe für Kinder. Aber da ließen sich nirgendwo Juden als Täter dingfest machen.

Israel unter strenger Beobachtung

Nur für Israels Untaten führt die Uno seit Jahren eine penible eigene Opferzählung durch, die nicht ganz aktuell, aber sogar mobilgerätetauglich ist. Wenn der UN-Generalsekretär also von Verhungernden spricht, die verdursten müssen, wenn es nicht zu einer "sofortigen humanitären Waffenruhe im Gazastreifen" komme, dann wird er bei deutschen Leitmedien nur allzu gern gehört. Dort, wo Killerkommandos aus "Hamas-Kämpfer" (n-tv) gerühmt werden und das "Gesundheitsministerium" (ZDF) der Terrororganisation Hamas als brauchbare Quelle für noch die absurdeste Horrorstory gilt, gingen die von der Uno geadelten Opferzahlen wie geschnitten Brot. 

Von "mehr als 30.000" Toten wusste der "Spiegel" im Februar zu berichten, die Frankfurter Rundschau folgte Anfang März mit "rund 30.000", im April zählte der "Tagesspiegel" dann irgendetwas "über 30.000", während der Vatikan schon "rund 35.000" beklagte. Zwar hatte sich die Versorgungslage bei den Leichensäcken offenbar entspannt, denn nach einer ersten Welle von besorgten Berichten über einen Leichensackmangel ging das Thema noch vor Weihnachten vollkommen verloren.

Wiedergeboren von den Vereinten Nationen

Medien haben eine besondere Vorliebe.
Dafür aber musste nicht gerundet werden, es wurde einzeln abgezählt: Von 34.904 Tote weiß das unbestechliche Statista-Portal, weil auch die Uno von genau so vielen wusste. Doch anders als bei den Ehec-Toten, die auf dem Höhepunkt der Sprossenpest von 2011 "nie wieder gesund" wurden, haben die Vereinten Nationen jetzt ein Wunder bewirkt: Aus 34.844 Todesopfern, darunter 22.088 Männer, 4.959 Frauen und 7.797 Kinder, die bei der Uno am 8. Mai in den Büchern standen, wurden 24.686 Personen, darunter 10.006 Männer, 4.959 Frauen und 7.797 Kinder, sowie, offenbar, 1.924 Diverse.

An die große Glock gehängt hat UN-Generalsekretär António Guterres die neuen Zahlen nicht. Der frühere Chef der Sozialistischen Internationale weiß, dass Kampforganisationen wie Oxfam auf möglichst hohe Zahlen angewiesen sind und Medien am liebsten Kinder sterben sehen. Die Halbierung der Zahl der getöteten Männer erfolgt im Kleingedruckten, die Verbreitung der guten Nachricht erfolgt über Special Interest-Adressen, so dass unnötiges Aufsehen vermieden wird. Nur die "Jungle World" zeigt hierzulande Interesse daran, die Fake News der Hamas, die monatelang so bereitwillig über alle Kanäle verbreitet wurden, richtigzustellen.

Im Nebel des Krieges

Der Uno-Todesticker ist nicht ganz aktuell.

Die Uno macht den "Nebel des Krieges" für die leichte Abweichung um ein Drittel verantwortlich. Oxfam, die Armenorganisation, die dem israelischen Militär im Januar vorgeworfen hatte, es töte "täglich durchschnittlich 250 Palästinenser" und damit übersteige "die tägliche Zahl der Todesopfer die bei jedem anderen großen Konflikt der letzten Jahre", hat noch nicht dagegen protestiert, dass die Uno nun statt 54.000 Opfer nicht einmal die Hälfte nennt. Die deutschen Leitmedien verzichten darauf, ihr Publikum mit Richtigstellungen zu irritieren, die Zweifel an Baerbocks "Eskalationspirale" und Georg Restles "Gewaltspirale" wecken könnten.

Montag, 13. Mai 2024

HFC-Abstieg: Ende mit Schrecken

Abstieg des Halleschen FC
Der Absturz des Halleschen FC, der sich seit Jahren ankündigte, hat sich jetzt vollendet.


Es hat diesmal einfach alles perfekt gepasst, von Anfang an. Die Zeichen an der Wand waren unübersehbar. Die Richtung war früh zu erkennen. Selbst die sozialen Netzwerk-Kacheln, die die Medienabteilung des Halleschen FC verbreitete, zeigten in ihrem Eierschalenton, dass das Schneeweiß der Vereinsfarben sich eintrübt. 

Vor allem aber waren sie bemerkenswert falsch formatiert: Das bei Instagram geforderte Quadrat war leicht zu breit geraten. Immer wurde am Rand etwas abgeschnitten. Unübersehbar auf den ersten Blick, andeutend, dass etwas aus dem Rahmen fällt. Geändert wurde der Fehler nie, vielleicht wurde er bei den Verantwortlichen nicht einmal bemerkt.  

Ein böser Schnittmusterbogen

Passte nie ins Format.
Fast wirkt das kleine, vollkommen unwesentliche Detail aus der wahrscheinlich für geraume Zeit letzten Saison des Halleschen FC in der 3. Liga wie ein Schnittmusterbogen für nicht nur so vieles in dieser Spielzeit, sondern für ein ganzes Jahrzehnt Profifußball in Halle. Seit jenem wunderbaren Tag im Mai 2012, als sich vollendet, was Monate zuvor noch ein ungewisses Versprechen gewesen war, hatten sie alles ausprobiert: Weitermachen mit den Aufstiegshelden. Kontinuität in der Führungsetage. Überlebenskampf. Neuanfang. Richtig Geld investieren. Andere Spieler. Erfahrene. Junge. Trainerwechsel. Sportdirektoren. Präsidenten. Angriff auf ganz oben. Konsolidierung. Ballbesitzfußball. Aggressives Konterspiel.

Ein halbes Jahr lang sah es beinahe so aus, als könnte die Rückkehr in die 2. Liga gelingen. Nach fast 30 Jahren. Dann war irgendwas. Dann knackte es im Gebälk. Dan ging nichts mehr und der Aufstiegsaspirant war wieder einmal froh, nicht abgestiegen zu sein. Die Zahlenreihe 10-9-10-13-13-13-4-15-9-14-16-17, die aussieht wie eine dieser neuen, für normale Menschen unerinnerbaren IBAN-Nummern, beschreibt das Schicksal eines Fußballvereins, der von sich selbst meinte, er habe sich zumindest in der Drittklassigkeit des deutschen Profifußballs sicher eingerichtet. Während er in Wirklichkeit unverkennbar einem unausweichlichen Schicksalstag entgegentrieb. 

Nur eine Abwärtstrendbremse

Nachdem Aufstiegstrainer Sven Köhler hatte gehen müssen, wurde es nicht besser, sondern schlechter. Torsten Ziegner vermochte den Abwärtstrend, den Köhler-Nachfolger Rico Schmitt eingeleitet hatte, nur kurz zu bremsen. Florian Schnorrenberg schaffte zwar als einziger HFC-Coach in der Dritten Liga neben Köhler und Ziegner und einen einstelligen Tabellenplatz. Musste aber an den Laptoptrainer Andrè Meyer übergeben, der mit dem Projekt des programmierbaren Fußballer scheiterte. Auf Platz 14 folgte Platz 16 mit Retter Sreto Ristic. Dessen Notablösung Stefan Reisinger macht die Klappe nun zu. Elf Trainer brauchte es für die Mission Abstieg.

Abschied nach zwölf Jahren

Ein Abschied nach zwölf Jahren, auf den sich der Anhang bereits seit Monaten vorbereiten konnte. Es war nicht alles schlecht bis zu diesem Ende mit. Aber das meiste. Von der Abwehr, im vergangenen Jahr noch die Lebensversicherung, blieb nur ein Loch. Von der Spielfreude einiger weniger Begegnungen war in den meisten anderen nicht einmal für einige Minuten lang etwas zu sehen. 

Die Mannschaft des HFC spielte wie in Gipspantoffeln. Die Interviewaufsager nach den Niederlagen klangen wie Pflichtübungen. Der Trainer zeigte sich überzeugt, dass der richtige Kurs anliegt. Die Chefetage schwieg. Die Fankurve, ehemals berüchtigt für ihre kurze Zündschnur, schwor sich auf das amtliche Vereinsmotto "Nur zusammen" ein und war fein stille. Medien schwiegen begeistert mit. Niemand rührte an den Schlaf der Vernunft. Dabei konnte jeder sehen, wohin der Dino-Dampfer unterwegs war. Aber niemand wollte es wahrhaben. So, als würde erst das Aussprechen des Absehbaren die kommende Katastrophe auslösen. 

Alles wie immer

Im Winter passierte dann wie immer das, was beim HFC im Winter immer passiert: Geld, das bis dahin überall fehlt, taucht auf und finanziert eilige Notzugänge. Neu diesmal, dass der selbsternannte Familienverein, der sich selbst gern als Adresse mit sehr, sehr gutem Ruf im deutschen Fußball lobt, fünf jungen Spielern den Stuhl vor die Tür stellte. Verschwinden sollen sie, sich etwas anderes suchen, Vertrag hin, Vertrag her. Wer nicht gehen will, darf sich, ohne dass ihm irgendetwas Konkretes vorgeworfen wird, allenfalls noch beim Nachwuchs fit halten. 

Ein brutales Zeichen nach innen, dass andere Saiten aufgezogen werden. Ein Zeichen nach außen, dass den Vereinsverantwortlichen offenkundig jedes Gefühl für Anstand und Umgangsformen dermaßen abhandengekommen war, dass sie keinen Gedanken mehr daran verschwendeten, welche Langzeitwirkung ihre Disziplinierungsaktion auf künftige Vertragsgespräche mit Wunschspielern haben könnte.

Brutale Ablenkung

Der Fußball als Fleischmarkt. Das Geschäft ungeschminkt. Vom eigenen Versagen beim Suchen und Finden des richtigen Personals war mit dem Opfern der fünf jungen Leute, die bis dahin wenig oder kaum gespielt hatten, erfolgreich abgelenkt worden. Das Ansehen mochte schwer gelitten haben. Fünf junge Menschen behandelt wie Abfall, aussortiert und abgekanzelt. Aber all das wäre ja vergessen, gelänge wie noch jedes Mal das Kunststück, auf den letzten Metern die Klasse zu halten.

Ein Anzeichen für höchste Nervosität. Ohne Angst vor dem Fluch der bösen Tat.

Kein Bedarf an Erweiterung

Ja, "Nur zusammen" ist das Motto des Vereins, der in zwei Jahren seinen 60. Geburtstag feiert, seit seinem 50. aber einer Idee hinterherläuft, was er eigentlich sein möchte. Der traurige Dino in der 3. Liga? Auf Augenhöhe mit dem ewigen Erzfeind in der Landeshauptstadt? Der Familienverein, der nach zwölf Jahren in der dritthöchsten Spielklasse zwar ein hübsches neues Stadion bespielt, aber zufreiden damit ist, dass er im Grunde genommen nicht einen einzigen Zuschauer mehr anzieht als in den Tagen von Nico Kanitz, Marco Hartmann, Sören Eismann, Daniel Ziebig und Maik Wagefeld? 

Damals, als allem Anfang noch ein Zauber innewohnte, hatten die Stadionplaner versichert, wenn es dann wegen der sportlichen Eerfolge bald zu eng werde im neuen Schmuckkästchen werde man problemlos noch eine Etage an Tribünen auf die bestehenden Ränge draufsetzen können. 18.000 oder 20.000 oder 25.000 Fans würden ihren Verein feiern dann können. Euphorie des Aufbruchs. Heute besteht kein Bedarf. Es kommen an guten Tagen 8.000, an schlechten 6.500. Schon über Jahre redet niemand mehr davon, irgendetwas auszubauen.

Kommen und Gehen

Sie sind gekommen und wieder gegangen, die Kaderplaner, Scouts und Trainer, die Präsidenten und Spieler, ohne nach einem Jahrzehnt Aufbau mehr zu hinterlassen als die Hoffnung, dass sich im Falle des Abstiegs in die Regionalliga wenigstens Rekordspieler Niklas Landgraf und Kapitän Jonas Nietfeld überreden lassen, zur Stange zu halten. So viele andere, die im früheren Kurt-Wabbel-Stadion zwischendurch mal Hoffnung auf bessere Zeiten gemacht hatten, sind längst wieder fort - Legionen von Männern wie Fetsch, Boyd, Huth, Guttau, Mai und wie sie alle hießen.

Bezeichnend für die Erfolge der Kaderplaner an der Saale: Beim Champions-League-Teilnehmer RB in der Nachbarstadt stehen heute vier Aktive im Kader, die länger bei RB sind als der dienstälteste Spieler beim HFC. Vier Spieler, die seinerzeit noch in der Dritten Liga gegen den HFC aufgelaufen sind und ihren Verein heute in der Champions League vertreten. Anders in Halle: Zwar ist keiner der Männer, die den HFC verlassen haben, zu einem der ganz Großen im deutschen Fußball geworden. Doch nur einige wenige, die zu anderen Vereinen der 3. Liga gehen mussten, weil der HFC nicht mehr hatte haben wollen, sind in diesem Jahr abgestiegen. Die meisten nicht.

Zu schlecht für Halle, gut genug anderswo

Um Fußball haben sie sich in Halle auch immer öfter weniger gekümmert. Was war nicht alles wichtig! Das Nachwuchsleistungszentrum. Die Sozialarbeit mit den Ultras, die Jahr für Jahr wenigstens ein auskömmliches Spielergehalt per Pyrotechnik direkt nach Frankfurt am Main überweisen. Gut aussehen. Einen guten Eindruck machen. Bis zehn nach Zwölf übertönten Schönreden und das Beschwören vermeintlich intakter Chancen auf den Klassenerhalt jede Kritik. Die Fans verwandelten sich in einen fatalistischen Haufen, der nur zu gern glauben wollte, was man ihm vorbetete. Das wird schon. Das ist doch immer geworden. Und danach kommt der Neuaufbau! Aber diesmal wirklich.

Keine 24 Stunden nach der Abfahrt des Fahrstuhls ins Kellergeschoss ging es genauso weiter. In viereinhalb Zeilen beklagt und bedauert der Vereinsvorstand, dass es "am Ende leider nicht mehr gereicht" habe, obwohl man "in den letzten Wochen und Monaten viele Analysen vorgenommen" und "identifizierte Handlungsfelder in Angriff zu nehmen" versucht hatte. "Das müssen wir nun so akzeptieren, die Verantwortung liegt klar bei uns". 

Im Stil der ganzen Jahre

Weiter geht es dann im Stil der vergangenen Jahre: Die Planungen laufen "auf Hochtouren", man werde "aus dieser Situation lernen, an unseren Strukturen arbeiten und uns als Hallescher FC klarer definieren". Auch der beim Anhang immer gen gehörte "Bezug zur Region" und die Versicherung, dass nun bald "junge Spieler ihre Chance bekommen", fehlt nicht.

Nun schließt sich ein Kreis, seit Jahren schon hatte der HFC Fußball wie im Nebengeschäft betrieben, ein Profiverein, den den Sport dem Selbstlauf überlässt, immer dasselbe tut und jedes Mal ein anderes Ergebnis erwartet. Elf Trainer, etliche längst vergessene Sportdirektoren, der mittlerweile dritte Präsident, eine neue Generation an Sponsoren, zumeist verbandelt mit den prallen öffentlichen Kassen.

Alles und nichts

Und doch: Alles änderte sich und nichts zugleich. Keine der reinem Glück zu verdankenden Rettungen wurde analysiert oder aufgearbeitet. Wie der sagenhafte Absturz in der Saison, als es kurz nach Aufstieg roch, bleiben auch die vielen, vielen göttlichen Fügungen, die an den vielen, vielen möglichen Totalstützen vorbeigeführt hatten, sofort mit dem Ende der Saison dem Vergessen anheim. Neues Spiel. Neuer Trainer. Neues Laptop. Neues Glück.

Zentrale Aufgabe des ganzen Unternehmens Hallescher FC schien nicht der sportliche Erfolg zu sein, denn der würde eines Tages von selbst kommnen, wenn beim Zusammenwürfeln von sportlicher Leitung und Spielerkader endlich die magische Mischung entstanden sein würde. So lange feierte man sich für ausgezeichnete Sozialarbeit, für entschlossene Losungen, das Setzen von Zeichen, das Zahlen an Strafen an den Verband und den Aufbau eines Nachwuchszentrums, von dem man sich für die Zukunft einen steten Strom an Talentenachschub für die erste Mannschaft erwartet. Mit welchen Aussichten, zeigt der Blick nach Leipzig oder München, wo es seit Jahren niemand aus den sogenannten Legionärsschmieden an den höhergehandelten Talenten aus Spanien und Frankreich vorbei in die erste Mannschaft geschafft hat.

Aber wenigstens sind solche Bauarbeiten planbar, wenn auch mit Verzug. Vom Plan, eines Tages in einem nicht allzu fernen Jahr aufzusteigen, blieb dagegen nur die Freude darüber, im Mai jeden Jahres nicht abgestiegen zu sein. Woran die Sache krankte, weshalb noch jeder Neuaufbau schiefging und der Abstand zum Tabellenende beständig schrumpfte, war keiner weiteren Betrachtung wert. Neue Leute planten, neue Trainer brachten ihren neuen Laptop mit und dazu namhafte Assistenten, neue Reden wurden gehalten und neue ehrgeizige Ziele ausgerufen. 

Der neue Anlauf, aus dem Mustopf der ewigen Abstiegsangst zu springen, war dann allerdings immer noch vor Weihnachten gescheitert und vor Ostern kam üblicherweise der Retter, der nach erfolgreicher Mission Prokura bekam, genauso weiterzumachen, aber nun mit Spielern, die er selbst ausgesucht hatte, weil er sie von sogenannten "früheren Stationen" kannte und ebenso schätzte wie den jeweiligen neuen Sportdirektor, einen alten Bekannten, der bei seinen früheren Vereinen schon... und so weiter.

Auf das Ende mit Schrecken, das jetzt kam,waren alle emotional so gut vorbereitet, gefühlsmäßig geradezu abgehärtet, dass selbst dieser schlimmste Fall hingenommen wird als sei er wirklich unaufausweichlich gewesen. Und das war er dann wohl auch.